Beide können wir schon mit Bild vorstellen. Die Aufnahme stammt von ihrer Silberhochzeit am 1.November 1914. Sie sind darauf 52 bzw. 48 Jahre alt.
Wie erwähnt, ist Wilhelm der jüngste Sohn von Friedrich und Maria Wöhl geb. Vitense aus dritter Ehe. Das sind die mit „mien Kinner, din Kinner un uns Kinner”. Für die Arbeit im Moor ist Wilhelm zu schwächlich und wird darum nach dem Wunsch des Vaters Schuhmacher. In seinem Handwerk ist er unerhört exakt und kann sogar feine Reitstiefel machen. Aber die Aufträge fehlen später. Wilhelm ist zwar recht gescheit, aber kein guter Geschäftsmann wie etwa die Bertram-Schuster. Er ist eher scheu und sehr wortkarg.
Oma Rieke erzählt ihre Heiratsgeschichte:
Sie kennen sich aus der Kindheit, denn Grambow gehört zum Kirchspiel Groß Brütz. Man hat sich beim Gottesdienst gesehen. Inzwischen war Wilhelm, wie es üblich ist, als Handwerksbursche auf Wanderschaft, sogar in Hamburg. Nun sehen sie sich in Schwerin auf dem Werderfest wieder. Am Werderholz ist ein Schützenplatz, wo im Spätsommer immer der übliche Rummel stattfindet. Die lustige 22jährige Rieke will dort nicht fehlen, und der 26-jährige Wilhelm denkt ans Heiraten, denn er möchte sich in Schwerin selbständig machen. Er trifft sich nun öfter mit Rieke, ist aber nicht sehr beredt und gesellig, aber, was er sagt, hat Gewicht, wie Rieke betont. So fragt er sie aus heiterem Himmel: „Rieke, woväl hest?“ . Sie zeigt ihm ihr Sparbuch, das man zu der Zeit immer auf der Brust bei sich trägt, und labt sich an seinem freudig überraschten Gesicht. Dann zeigt er ihr sein Sparbuch und sagt nur: „Dat langt.“ Umständlich holt er Verlobungsringe aus der Westentasche und gibt Rieke einen mit dem Wort: „Da“. Weiteres Gerede erübrigt sich ja eigentlich auch.
Wie soll nun Oma Riekes Enkel Bruno (5.1) seine Großmutter beschreiben; objektiv sicherlich nicht, denn Bruno ist für sie voreingenommen. Sie ist seine Lieblingsoma, und sieht sie darum ganz anders als seine Mutter Martha(4.2) ihre böse Schwiegermutter. Zumindest ist Rieke eine äußerst tüchtige und arbeitsame Frau, gebefreudig von großer Herzensgüte. Was sie bei manchen in Misskredit bringt, ist ihr „freches Mundwerk“, wie Martha es nennt. Wenn Rieke eine Frechheit losgelassen hat, sagt sie selbst: “Ick hew er dat `n bäten fin gäben.” So fein, dass man es überhören konnte, wird es zumeist nicht gewesen sein.
Nach der Heirat mit Rieke lässt sich nun Wilhelm als selbständiger Schuhmachermeister in Schwerin nieder. Die erste Wohnung in der Paulstraße erweist sich bald als zu klein. Es glückt dann, eine billige Behausung bei Barbier Heiden in der Johannesstraße 1 (siehe über google maps!) zu bekommen. Aus diesem Haus könnte man allerlei Eulenspiegeleien von weniger chronistischem Wert erzählen, z.B. diese: Oben im fröhlichen Ausguck unter dem Dach hauste der Barbierlehrling in einer sehr bescheidenen Kammer. Bald beschwert man sich beim Chefbarbier Heiden darüber, dass dieser Bengel sein Waschwasser immer aus dem Mansardenfenster auf die Straße schüttet und Passanten trifft. Der Figaro fragt ihn: „Worüm deest du dat?”. Der Bengel weist auf den Ausguss unter dem Wasserhahn und sagt ganz erstaunt: “Ick dach, dor köm dat saubere rin.” Wasserleitung ist nämlich in Schwerin zu dieser Zeit eine Neuerrungenschaft. Auf dem Lande gibt es nur den Soot. Auf Bildern sieht man noch den langen „Swengel“, mit Hilfe dessen man einen Eimer tief in einen Brunnenschacht hinabläßt. Handpumpen gibt es noch gar nicht so lange.
Bei großer Wäsche ist das Wasserholen aus dem Soot immer sehr mühsam. Oma Rieke erzählt aus ihrer Kindheit, dass sie immer für die Lehrersfrau Wasser geholt hätte. Das hätte sie aber viel lieber getan, als den „Katekiek“ zu lernen. Viel mehr als den Katechismus hatte die Schule damals nicht zu bieten. Der Schneider des Dorfes war gleichzeitig der Lehrer. Für seinen Unterricht sei Rieke nicht gescheit genug und solle darum lieber seiner Frau bei der Wäsche helfen. Man wollte die Landkinder gar nicht so gescheit haben. Sonst würden sie nur in die Stadt abwandern.
“Oma, vertell nochmal, as du geburn würst!” “Ja, min Jung, dat wör ne Not. Donn wör de Soot tofrorn (14. Dezember). Man künn keen Water kriegen, um mi tau waschen.”
Wilhelm und Rieke haben nur ein Kind, nämlich Richard (4.1). Leider erkrankt er bald an Rachitis (engl. Krankheit) und muss in seiner Kindheit ein Stützkorsett tragen. Es lässt sich nicht verhindern, dass er bucklig verwachsen wird. Dennoch wird er ein richtiger Junge und hat immer den Spruch drauf: “Wat kickst? Hest noch keen Minschen sehn? Wist een in de Schnut?”
Wilhelms Schusterei bringt nicht genügend ein. Rieke muss Putzstellen annehmen und auch als Waschfrau gehen. Sie legt Mark für Mark zurück, aber die Inflation nach dem ersten Weltkrieg nimmt ihr alles wieder. Sie wird dies nie verwinden. Es ist auch eine schlechte Zeit. Die Leute lassen anschreiben, aber die redegewandte Rieke treibt es ein. Dennoch kommt man kaum über 9 Mark Wochenverdienst. Dennoch ermöglichen sie es, dass Sohn Richard die Bürgerschule besucht, was gar nicht so billig ist. Er soll es einmal besser haben als seine Eltern. Inwieweit dieser Wunsch in Erfüllung geht, hören wir bei der nächsten Generation.
Natürlich können Wilhelm und Rieke sich praktisch gar nichts leisten. Er geht höchstens am Sonnabend in den “Fleutendörper Kroog” in der parallelen Grenadierstraße, kann sich aber das geliebte Skatspielen nicht leisten. Die Spieler, die gern einmal eine Pause machen wollen, lassen Wilhelm währenddessen die “Karten anfassen”. Sie wissen, dass er sehr sicher spielt und so gut wie immer für sie gewinnt. Für einen blanken Zehner leistet er sich eine kleine Tafel Schokolade, um sie seinem Enkel Bruno mitzubringen. Der freut sich aber auch zu dem Groschen. Wilhelm hebt die neugeprägten blanken Zehnpfennigstücke immer für ihn auf. Woher Wilhelm so gut Skat spielt? Nun, er hat ja nicht viel Arbeit. Solange die Schuhe in der „Weekbütt“ weichen, spielt er mit sich selbst auf dem Schusterbrett. Das ist die wichtigste seiner kleinen Freuden des Lebens.
Rieke erfreut sich mehr daran, dass zu Hause alles glänzt und blitzt, nicht nur der Fußboden, auch die schneeweißen Sofadecken und vor allem die Gardinen. Schwiegertochter Martha muss sie anbringen und gerät in Verzweiflung, wenn Rieke dirigiert: “Noch `n bäten wierer na rechts. Holt, vääl tau väll, höchstens `n Millimeter!”. Nach dem Gründlichreinmachen triumphiert sie dann: “Rückt dat nich wedder schön frisch? Alle Lüer kieken na mien Gardinen. Se sidden öwer ook wedder grootordig. Dat hett sogor Hasselfeldsch seggt. So witt sünd se ook selten geraden!”
Geselligen Umgang mit Freunden pflegen Wilhelm und Rieke kaum. Es wäre zu teuer, etwas anzubieten. Doch die Witwe des Milchhändlers Wöhl (keine Verwandte) kommt oft und lange. Sie hat auch einen. Sohn Richard. Man sagt sehr höflich: “Du, Fru Wöhl”, und die andere sagt auch so. Stundenlang geht es hin und her: “Mien Richard” und “uns Richard”. Dann ist der Enkel dran: “Nee, wat hett Bruno för hübsche brune Oogen, un klook is he ook. Dat hett he bestimmt von sien Grootvadder.” Nach 3- 4 Stunden Gerede ist dies das Startzeichen für Wilhelm. Er sagt nur: “Nu isst naug, Fru Wöhl”. Rieke begütigt: “Uns Vadding meent dat nich so, kumm man `n anner Mal wedder!”. Draußen ist sie, wenigstens für diesmal, denkt man. Aber Wöhlsch kommt noch mal zurück: “lck wull noch von mien Huswirtin vertellen: „Du, Fru Wöhl, weest jo, ick bün jo ümmer still un ruhig, öwer donn sää iok, Fru Meier, sää ick …“. Vaddings Drohgebärde genügt dann, um die gute Freundin des Hauses abzuschütteln. Zu seiner Frau sagt Vadding nur: „Frug!“. Dann weiß sie, was die Uhr geschlagen hat und ist trotz ihrem „frechen Mundwerk“ mucksmäuschenstill.
Frau Möller, die spätere Barbiersfrau, zeigt Oma Rieke ganz stolz ihr neues Kleid. Diese sagt anerkennend: “Dat is würklich hübsch, Fru Möller, blot Se dürften dat nich drägen. Na, wenn morgens all Schokolur ut de Nachtdischschuwlar fret, denn salln woll dick warden.” “Ick verstaa gor nich, worüm Möllersch doröwer beleidigt is”.
Nebenan, Johannesstr.3, wohnt Riekes Bruder Heinrich im Dachgeschoß mit seiner Frau, die alle „de Dick“ nennen. Es ist nur noch Tochter Lisbeth da, denn Sohn Friedrich ist in die Schweiz ausgewandert, und Sohn Rudolf ist nach Hannover gezogen. Heinrich Kähler mit der Dicken und Lisbeth kommen ab und zu zum Kaffee zu Rieke und Wilhelm. Heinrich ist Bahner und erfreut sich darum großen Wohlstands. Im Keller hat er sich einen Stuhl aufgestellt, um stundenlang neben seinen Brikette sitzen zu können wie auf einem Geldsack. In Brunos Augen hat er so feine Manieren wie sein Vater „Botter-Köhler“, der ja auch als einziger mit der „Gnää Fru“ tanzen durfte. Kein Auftritt ohne Manschetten, „Buernbedreger“ und „Vatermörder“. Nach dem Kaffee freut sich schon Bruno auf den Moment, in dem er seine Tasse umdreht, und macht es ihm selbstverständlich mit derselben vornehmen Geste nach. Die rothaarige Lisbeth, die mit 40 immer noch nicht heiraten darf, verdingt sich als Weißnäherin. Sie ist vornehm wie „Botterköhler“ und ihr Vater Heinrich. Ihr „Jäääööö“ klingt wie das Näseln eines Obersten. Nur wenn Vetter Richard (4.1) sie anspricht: „Lisbeth gehst wedder bäten up n Derby?“, wird sie ganz ordinär. Erst nach dem Tod ihrer Eltern leistet sie sich einen „Jöter“. Das ist ein Liebhaber, den man wohl früher beim Jäten auf dem Felde erobern konnte. Lisbeths Jöter ist allerdings schon über die 70. “Aber er hat einen schönen Garten mit viel Hühnarn.” Dieser Jöter ist – man soll es nicht glauben – noch so leidenschaftlich, daß er Lisbeth jede Woche mindestens einmal verhaut, was die Liebe nur schöner machen kann.
Dann ist da noch Riekes Schwester Minna, die von „Gnää Fru“ “Fieken” und nach ihrer Heirat des Groß Brützer Bauern Möller nur noch „Buerfieken“ genannt wird. Auch sie wagt sich einige Male im Jahr auf die 11 km lange Weltreise von Groß Brütz nach Schwerin mit dem „Milchwagenexpress“. Schon länger als eine Stunde vor Abfahrt des Zuges rafft sie ihre Sachen zusammen, setzt den hohen Hut auf, steckt die lange Haarnadel hindurch und gerät fast in Panik: „Oh, mien Haut (Hut), mien Daug (Umschlagetuch) un mien Schau (Schuhe). Wo hewk denn nu mien Biljett?” Einige Male fahren auch Rieke und Wilhelm mit ihrem Richard zum Brützer Bauern. Johannes Möller, so heißt er, ist eine Seele von Mensch. Beim Essen sagt er zu Richard: “Rieke, du fretst öwer!”, keine Mißgunst, sondern nur Freude über den Appetit des Jungen. Er selbst ,frißt jeden Morgen 12 Eier und bleibt dünn wie ein Hering. Als Kirchenjurat muß der Bauer zuweilen Festreden halten. Sie haben stets denselben Wortlaut, den irgendeiner der Zuhörer schon vorweg redet: „Heut ist der Tag; den hat der Herr gemacht. Und dafür wollen wir ihm dankbar sein; ja, dankbar wollen wir sein. Tagesarbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste. Wir sind heute zusammengekommen, um …“.
Von den sonstigen Verwandten ist noch Riekes Bruder Fritz, Kutscher bei Bierhändler Bünger, zu erwähnen. Leider erhängt er sich wegen eines Krebsleidens. Schwester Maria heiratet einen Katzberg. Ihre Stärke ist ihr frommer Augenaufschlag, um dem Pastor etwas aus dem Klingelbeutel zu locken. Wegen eines Streites um den von den Eltern geerbten wackeligen Tisch spricht man seit Jahren nicht miteinander. Wenn Richard sie trifft, spricht er sie an, damit sie den Kopf feindlich wegwendet. “Wir reden nicht mehr miteinander.” Richard sagt dann: „Un ick snack doch mit di!“ Diese Zeremonie wird in kurzen Abständen wiederholt. Natürlich sind da auch noch die Geschwister von Opa Wilhelm, vor allem Anna Wöhl, die auf dem Markt Fische verkauft, zusammen mit ihrer Tochter. Wenn Richard sie anspricht, und er tut es stets, nimmt der ganze Markt teil. So laut geht es zu. Und Richard freut sich.
Vielleicht ist es charakteristisch, von der Zeit zu schreiben, als Richard die 10 Jahre jüngere Martha heiratet (4.2). Wilhelm und Rieke mögen sie schon, “öwer se hett jo nich arbeiten liert!”, sagt Rieke und will Abhilfe schaffen, was Martha gar nicht so schätzt. Da wird nicht nur beim Gründlichreinemachen gemeinsam gewütet, sondern auch im Garten vor dem Wittenburger Tor. Spätestens morgens um 6 geht es los. Man schuftet bis zum Abend und ist dann “messnattsweet” (mistig naß von Schweiß). Beeren werden sogar in der ärgsten Mittagshitze gepflückt. Rieke ist unerbittlich mit sich selbst und erwartet es auch von den anderen. Wenn die nicht wollen, sind ihre Worte nicht die herzlichsten. So ist es wohl kein Wunder, daß Brunos Mutter Martha die Oma Rieke ganz andern sieht als er.
Schließlich behält Oma Rieke den Bruno, wenn seine Eltern sonntags ausgehen. Mit Engelsgeduld läßt sie sich die Haare frisieren, rasieren, oder man spielt Eisenbahn mit dem Schiebladenpuff, manchmal auch Karten wie „66“ und „Zick“ oder „Schwarzer Peter“. Wenn alle Spielideen erschöpft sind, müssen die alten Spukgeschichten aus dem Düwelsborn her. Das ist ein tiefer morastiger Einschnitt, durch den die Bahn von Schwerin nach Groß Brütz seit Erbauung fährt und immer tiefer einsinkt. Die Ursache für diese seltene Grundlosigkeit ist natürlich der Düwel (Teufel), den dort schon viele angetroffen haben.
Bei Oma Rieke schmeckt es Bruno immer so besonders gut. Sie kann Dinge kochen, die Martha, seine Mutter, nicht im entferntesten beherrscht, z.B. Steckrüben mit einer Wurst dazu für einen Groschen, natürlich von Schlachter Jens. Dann Riekes herrliche Mairüben, aber „Speckstipp“ und „Sirupbrotaufstrich“ sind bei Bruno verpönt. Rieke und Wilhelm kommen mit 1/4 Pfund Fleisch die ganze Woche aus und sind auch sonst äußerst bescheiden. Zum Geburtstag und zu Weihnachten bäckt man einen Platenkuchen aus 5 Pfund Mehl, von dem man, wie Martha richtig erkannt hat, die „Maulsperre“ bekommt. Bruno sieht das anders, denn er sammelt sich nur die Mandeln oben ab. Zum Fest gibt es durchaus Geschenke, aber nur praktische, denn für Spielzeug hat man natürlich kein Geld.
Die bitterste Zeit kommt für Wilhelm und Rieke einige Jahre vor dem zweiten Weltkrieg, als Vadding seinen ersten Schlaganfall bekommt. Für eine Invalidenrente hat er zuwenig geklebt. So gibt es nur die Mindestrente und Wohlfahrtsunterstützung. Alle Ersparnisse sind, wie schon erwähnt, in der Inflationszeit verloren gegangen. Rieke weint jeden Tag: “Snurrers sünd wi nu! Dat is mi in de Ihr to nah! (an die Ehre greifend)”. In der Nazizeit gibt es Pakete vom Winterhilfswerk, die mehr verbittern als erfreuen. Silvester 1941, als Wilhelm stirbt, herrscht wieder Krieg. Martha sagt: ”Rieke hett noch twölf Johr de Fööt an n Aben hollen“ (die Füße gegen den Ofen gehalten), bis sie mit 87 Jahren ihrem Wilhelm nachfolgt. Es war ein Leben voll Mühe und Arbeit, wenig Ernte und ohne Dank vom Vaterland. Wenigstens brauchte Wilhelm in beiden Weltkriegen nicht zu den Soldaten, weil er nicht der stärkste war. Aber er hat für das Militär geschustert.
Wir werden nun anschließend hören, wie es den Großeltern Hinrichs ergeht, ob ihr Leben zu mehr Zufriedenheit Anlaß gibt. Die Antwort „nein“ darf man wohl vorwegnehmen.