Der 1891 geborene einzige Sohn von Wilhelm (3.1) und Friederike Wöhl (3.2) besucht wegen seiner guten Begabung die Schweriner Bürgerschule, ist aber in den letzten Schuljahren so faul, daß er vor der mittleren Reife abgehen muß. Die Lehre bei Zigarrenhändler Barth erweist sioh als ein Flop. Da steht in der MZ (Mecklenburger Zeitung), daß Rechtsanwalt Löwenthal, ein Jude, einen gewandten Schreiber sucht. Richard wird bei ihm einer und kann sich nach einigen Jahren bei der Mecklenburgisch-Lübeckschen Lebensversicherungsbank qualifizieren, wo er es bis zum Abteilungsleiter bringt. So gilt er für Martha Hinrichs, die Tochter von Christian und Luise (3.1. und 3.2) durchaus als gute Partie. An seiner Rückratverkrümmung stört sich kaum einer. Auch Luise, seine Schwiegermutter, mag ihn. Und seine Eltern bemängeln nur, „dat Martha nich arbeiten liert hett.“
Allerdings sind die Zeitumstände nach dem ersten Weltkrieg alles andere als rosig. Lebensmittel sind knapp. Der Geldwert sinkt immer tiefer. Durch die Inflation rechnet man nur noch mit Millionen- oder Milliardenbeträgen. Dennoch bekommt man den nötigsten Hausrat zusammen und kann zunächst in einem Mansardenzimmer in der Rostocker Straße wohnen, bis man schließlich eine Wohnung bei Maurermeister Stein in der Johannesstraße 11 bekommt. Dort oben in der Zweizimmerwohnung im zweiten Stock wird Bruno (5.1) geboren und soll das einzige Kind bleiben (siehe Foto rechts von 1923).
1924 endlich gibt es das erste Festgeld. Richard und Martha kaufen dafür – ihrer optimistischen Lebensauffassung entsprechend – eine Gans, denn Gänsebraten muß man seit Jahren entbehren. Doch das böse Erwachen kommt: Richards Lebensversicherung geht pleite als Inflationsfolge. Doch Richard ist nicht lange arbeitslos, sondern bekommt mit Hilfe von Onkel August, dem großherzoglich geheimen Oberhofkabinettskanzlisten, einen Schreiberposten bei dessen Sohn, dem Amtmann Hans Bertram mit dem Goldenen Sportabzeichen, in der Landesregierung. Dort regiert ein Berufssoldat der alten Schule über die Schreiberlinge. Richard kann zwar gut schreiben, aber sich nicht unterordnen. Er schafft die Umstellung nicht und wird darum „weggelobt“ zum Siedlungsamt, wo er wieder auf die Beine fällt.
So verbessert sich auch langsam sein Einkommen wieder. Schon in ihrer Verlobungszeit nehmen sich Richard und Martha einen Kleingarten vor dem Wittenburger Tor nahe dem Lankower See. Sie haben daran Spaß, später auch Bruno. Für die groben Arbeiten ist Oma Rieke die größte Stütze. Vielleicht liegt in der Gartenarbeit die Wurzel für die kommenden Probleme.
Als Folge einer Erkältung oder Grippe, die sich Richard im Frühjahr 1930 zuzieht, entwickelt sich bei ihm ein schlimmes Leiden, das man körperliche Nervenschwäche nennt. Wegen Platzangst kann er draußen keinen Schritt mehr allein machen, obwohl die Beine an sich in Ordnung sind. Martha muß ihn zum Dienst bringen und auch wiederholen und auch sonst ständig begleiten. In der Wohnung merkt man gar nichts von dem Leiden. Über 20 Jahre muß er sich bis zu seinem Tod damit quälen, und sie sagt so manches Mal: „Mein junges Leben welkt dahin …“ Ein wenig theatralisch, aber das ist schon eine arge Belastung. Trotzdem ist Richard nicht pessimistisch, sondern immer guter Dinge. 1937 wird die Sache dann kritischer. Um einen weniger weiten Weg zur Regierung zu haben, ziehen Wöhls um in das Haus der ,,Wrucke“ in der Rostocker Straße, die nun Adolf Hitler Straße (nach dem Krieg „Goethestr. 86“) heißt. Bis zum Garten wäre es fortan zu weit. Auch Oma Rieke kann nicht mehr von Vadding weg, weil er einen Schlaganfall gehabt hat. So wird der Garten aufgegeben.
Es ist Nazizeit. Richard glaubt daran und wird schon 1935 Parteimitglied. Bruno muss 1934 in die Hitlerjugend (siehe Foto von der Jugendweihe auf der Seite seiner Hinrichs-Großeltern) und hat keinen Spaß daran, vor allem nicht an den Sommerlagern, deren Besuch unvermeidlich ist.
Bruno besucht das Realgymnasium und verbringt seine Freizeit in der Badeanstalt Kalkwerder, denn als „Dicker“ soll er viel schwimmen.
Die Alten spielen währenddessen Skat, während die Damen schludern. Es gibt schöne Schwimmfeste und Feiern. Bald geht es zum Tanzunterricht. Onkel Walter Hinrichs, Marthas Bruder, ist jetzt auch in Schwerin, und alles sieht gut aus, weil keiner weiß, wie nahe der zweite Weltkrieg bevorsteht.
Von welcher Wesensart sind sie eigentlich, Richard und Martha? Auf alle Fälle lebensfroh optimistisch und großzügig. Das ist offenbar besser als Riekes Kleinlichkeit und der Bertram Geiz. Schließlich drückt der freundliche Herr Bobzin von der Beamtenbank immer ein Auge zu und gibt einen warmen Händedruck, wenn man ihm einen ungedeckten Scheck vorlegt. Von den Zinsen lebt die Bank nicht schlecht. Politisch geht Richard mit dem Zeitgeist mit, während Martha immer noch der Adel imponiert.
Vielleicht ist es gut, auf den Zeitgeist der 30er Jahre einzugehen, weil man später nur noch die Naziverbrechen in den Konzentrationslägern, besonders an den Juden, in den Vordergrund stellt. Zunächst einmal hatte es nach der Inflation Anfang der zwanziger Jahre als Folge des ersten Weltkriegs einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben. Aber die Weimarer Republik hatte es durch das eigene Profitgerangel nicht verstanden, die Verhältnisse im Lot zu halten. So waren es 1933 7 Millionen Arbeitslose, durch die die Kaufkraft so verringert war, dass niemand investieren wollte. Da die Banken kaum mehr kreditieren konnten und ohne Sicherheiten auch nicht wollten, blühte das Wucherer-Gewerbe. Aller Geldfluss ging zu denen, die es von der Regierung her zu sich steuerten. Und das waren hauptsächlich die Juden. Mit friedlichen Mitteln konnten die Nazis denen das Kapital nicht wieder abjagen. Der Preis für die Besserung der Verhältnisse in der Nazizeit bestand in verbrecherischen Gewalttaten an den Juden. Eine Alternative gab es nicht, wenn man nicht Gewalttaten der Notleidenden heraufbeschwören wollte. Natürlich stand das Ausland auf Seiten der entmachteten Juden. So war der zweite Weltkrieg vorprogrammiert. Das war eine ganz folgerichtige Entwicklung, die keineswegs allein auf einer schiefen Naziideologie beruhte. Wahrscheinlich wird sich so etwas Kreislauf ähnlich wiederholen. Zum Zeitpunkt dieser Zeilen – 1987 – deutet die hohe Arbeitslosenzahl bereits eine entsprechende Tendenz an. (Anmerkung von Kai: Über solche Vorurteile meines Vaters zu „Juden“ und zur NS-Zeit konnte man mit ihm nicht diskutieren, da „man selbst die Zeit ja nicht erlebt hatte“. Sie waren ähnlich wie andere pauschalierende Aussagen zu „den Engländern, den Franzosen, den Holländern, den Italienern, den Polen, den Russen usw.“ fest gefügt und auch durch spätere Reisen oder persönliche Bekanntschaften nicht zu erschüttern.)
Wir schreiben nun 1939. Bruno verläßt die Schule und wird mit Hilfe der Skatbrüder von Kalkwerder gegen seinen Willen zur Post verkuppelt, aber vielleicht soll das gar nicht so verkehrt sein, denn schon im September dieses Jahres bricht der zweite Weltkrieg aus.
Marthas Bruder Walter wird sogleich Soldat, während Bruno noch bis 1941 Zeit hat, um seine Postausbildung ziemlich zu beenden. Richard wird ins Landeswirtschaftsamt umgesetzt, um die Rationierung von Benzin und Öl zu organisieren. Anfangs zur Zeit der siegreichen Schlachten leiden die Wöhls nicht allzu sehr unter dem Krieg. Das wird erst in seiner zweiten, nicht mehr ganz so siegreichen Rückzughälfte anders. Gemeinsame Wochenenden mit Walter und Bruno gibt es nicht mehr, denn Walter kommt nach Rußland, Bruno nach Frankreich. Bruno kehrt bald nach dem Krieg heim, Walter wird hingegen bei Falkenburg in Pommern vermißt.
Bei Kriegsende rücken zunächst die Amerikaner als Besatzung in Schwerin ein und benehmen sich noch einigermaßen zahm, aber im Juli 1945 kommen dann die Russen und verhalten sich barbarisch. Plündern, rauben, morden und vergewaltigen sind noch lange an der Tagesordnung, dazu die Geheimdienstmethoden mit der Bespitzelung. Darüber hören wir im Zusammenhang mit Bruno (5.1) mehr, er hat nun mit Tante Mimis Hilfe Annemarie (5.2) wiedergefunden. Es gibt bald „Chausseegrabenhochzeit“, wie Richard sagt, in Feldberg, wo Bruno Amtsvorsteher bei der Post ist und Annemarie die Fernsprechvermittlung bedient.
Die Deutschen bewältigen nun die Nazivergangenheit durch Entnazifizierungsverfahren und machen es – wie immer – 150%ig. Richard wird als Parteimitglied aus dem Staatsdienst entlassen, kommt aber noch einmal bei der Handwerkskammer als Bürokrat wieder unter. Bruno und Annemarie müssen schon Anfang Juni 1946 in den Westen flüchten. Nun ist Richards optimistische Geisteshaltung stark angeknackst, was sich entsprechend auf das körperliche Wohl auswirkt. So stirbt er schon am Gründonnerstag 1952. Martha pflegt noch zwei Jahre ihre Mutter und Schwiegermutter. Für Rente ist sie noch zu jung. Sie muss das Haus verkaufen und siedelt 1955 zu Bruno und Annemarie in den Westen über. Dort sind ihr noch 25 Jahre beschieden, die sie gut für Reisen und Zusammenkünfte zu nutzen weiß. Doch sie ist unruhig und zieht noch von Düsseldorf nach Neuss zu Frau Kempke, ist danach fünf Jahre in Lübeck und die restliche Zeit wieder in Düsseldorf in eigener Wohnung. Im April 1980 stirbt sie an Durchblutungsstörungen im Bein.
Zum Schluß noch Fotos von Martha und Richard. Sie sind in den vierziger Jahren aufgenommen. Richards Gesichtsausdruck ist schon von seiner Krankheit gezeichnet.