27.9.1945 Annemaries letzte Kriegserlebnisse

Lieber Bruno!
vor mir liegt Dein Brief. –
Du, ich danke Dir. Es erschein mir traumhaft von Dir zu wissen, dass Du lebst. Auf Raten meiner Tante fasste ich den Mut und schieb an die dortige Polizei, um Deine Anschrift zu erfahren, die ich durch diese Wirrnisse vergessen hatte. Hoffentlich hat es Dir keine Unannehmlichkeiten bereitet, indem Dein Vater der Überbringer war. Und Du fasst es nicht falsch auf. Mir ist es schrecklich peinlich, dass ich diejenige bin, die zuerst den Versuch machte, um ein Wiederfinden herbeizuführen. –
Ja, die letzten Monate waren mehr als grausam. Seit Mitte Juli habe ich eine neue Heimat gefunden. Wie danke ich Gott. Ich glaube, Dir erzählt zu haben von meiner liebsten Tante, wo ich im vergangenen Jahr

einige Tage zu Besuch war. Es ist einfach rührend wie lieb hier alle zu mir sind. Nur mein guter Onkel fehlt. Am letzten Tage des Kriegsendes wurde er als Volkssturmmann an einem Bauchschuss in Liebstadt/Erzgebirge verwundet und wenige Tage darauf starb er. – Von meinen Eltern weiss ich seit Februar nichts. Meine Heimat ist ja unter die Polen gefallen. Du glaubst ja gar nicht wie ich darunter leide, nichts von meiner über alles geliebten Mutter zu wissen. Nur noch einmal möchte ich sie sehen und mit ihr sprechen. Die größten Vorwürfe mach ich mir, warum ich in der damaligen kritischen Zeit nicht nach Hause gefahren bin. Es war meiner Mutter größter Wunsch, bei ihr oder in der Nähe zu sein. Ich hätte einfach losfahren sollen, wie es viele Kolleginnen gemacht haben. Ohne auf das Gerede des Chefs zu hören, der mich mein Verlassen des Dienstes mit dem Tode bestracfen wollte. Nun ist es zu spät. – Stettin verließ ich am 19. März. Mit zwei netten Kolleginnen fuhr ich nach Saalfeld/Thüringen , um dort weiter der Post zur Verfügung zu stehen. Ich konnte meinen Dienst aber nicht mehr aufnehmen, weil ich gleich in den nächsten Tagen eine Lungen-

entzündung und Nervenzusammenbruch hatte. 14 Tage später wurden wir ausgebombt und bekamen auch keine Wohnung mehr dort, weil die Stadt mit Flüchtlingen überlaufen war. Was blieb uns übrig, als sich an die Straße zu stellen und zu warten bis uns einer mitnahm. Wohin, war uns gleich; der Amerikaner war 80 km von uns entfernt und der Russe nicht weniger. Auf gut Glück nahm uns dann endlich ein Militärauto nach Bayern mit. Da landeten wir in einer einsamen Gastwirtschaft am Rennsteig. Am darauf folgenden Tag überraschte uns der Amerikaner. Da mussten wir wieder raus. Die besetzten das Haus. Aber in den nächsten Tagen konnten wir in unsere Einsamkeit wieder Einzug haten. Da blieb ich bis Mitte Juli.

Länger konnte ich es nicht aushalten. Trotzdem ich wie Kind im Hause war, denn meine anderen beiden hatten mich inzwischen verlassen. Du, die Leute waren reizend. Noch nie hat beim Abschiednehmen so um mich jemand geweint als die. Aber die Ungewissheit um meine Eltern quälte mich so sehr, dass ich einfach mit meinem Hab und Gut im Rucksack loszog. Mit vielen Schwierigkeiten erreichte ich Berlin. Da glaubte ich alles überwunden zu haben, aber aufs Bitterste wurde ich enttäuscht: „niemand kommt nach Pommern rein.“ Der Pole hat es seit 14 Tagen besetzt. – Da glaubte ich, dass ich einfach nicht länger leben kann und wie gut, das Leben (ging) weiter. Das waren die Einzelheiten aus den letzten Monaten.

Schlussbemerkung vom Rand der 1. Seite:
Für heute genügt es wohl, nicht wahr? Liebe Grüße! Deine Annemarie