6.12.1951 Brief von Richard und Martha an ihre Kinder

Schwerin, 6. XII.1951


Liebe Kinder!
Mit Eurem reichhaltigen Geburtstagspäckchen habt Ihr der Oma Rieke eine unermeßlich große Freude bereitet. Sie gab mir den Auftrag, Euch schnellstens in ihrem Namen herzlich zu danken. Dieser Aufgabe unterziehe ich mich gern, denn ich habe die Freude über das Erhaltene miterlebt, so daß es mir eigentlich nicht schwer fallen sollte, die rechten Worte des Dankes zu finden. Und dennoch, liebe Kinder, so ganz einfach ist die Sache nicht, wie man annimmt, zumal ich euch nicht nur den kalten Dank, sondern einen Teil Empfindungen übermitteln möchte, die unsere Jubilarin in jenen Stunden beseelte. Ihr kennt sie ja und wißt in folge dessen, wie einfach und bescheiden sie für gewöhnlich lebt, daß ihr Tagesablauf immer gleichbleibend ist und nur selten etwas eintritt, was sie aus dem Gleichgewicht bringt. In solchen Ausnahmefällen pflegt sie das Glück damm aber nicht allein zu genießen, oder, wenn es ein Unglück ist, nicht allein zu tragen. Sie muß sich mitteilen können, so oder so, wenigstens ihren nächsten Angehörigen gegenüber. So war es auch jetzt. Statt es zu öffnen, nahm sie das Päckchen unter den Arm und eilte damit zu uns, zur Goethestr., um den Inhalt in Gegenwart von Mämmchen u. Oma Wiesche zu untersuchen. Drei Augenpaare – den Kneifer und die Brillen nicht mitgerechnet – blickten zugleich in den bewußten Kasten und, liebe Kinder, sie wurden wahrlich nicht enttäuscht. Unser guter Geist, damit meine ich Dich, liebe Annemie, hatte ihre Aufgabe, Freude zu bereiten, durch das Grün des Bockdorfer Parkes und durch die Anordnung der B…nisse so glänzend gelöst, daß die nahrhaften Dinge zunächst nicht die ihnen gebührende Beachtung fanden. Das kam, wie gesagt, erst später, als die schriftlichen Glück- und Segenswünsche mit Genugtuung zur Kenntnis genommen waren. Am Abend, als ich selbst die Herrlichkeiten in Oma Riekes gemütlicher Klause zu Gesicht bekam, spielte der materielle Reichtum m. E. mindestens schon eine gleich große Rolle. Eure Photos standen unter der Lampe bzw. gingen immer von neuem von Hand zu Hand. Tränen der Freude aber auch Tränen der Sehnsucht setzten Oma Riekes zufurchte Wangen u. mehrfach wurde der unbändige Wunsch laut „ach, wenn ich die ganze Gesellschaft doch noch einmal sehen könnte u. sei es für 10 Minuten“. Auf ihren Bruno, den sie mit groß gezogen hat, ist unsere Oma ganz besonders stolz, wohl weil er so adrett angezogen ist. Sie meint, daß das ohne Zweifel Annemies Verdienst sei, denn früher sei Bruno wie sein Vater mehr salopp gewesen. Dein Aussehen, liebe Annemie, ist entschieden wohler als im vergangenen Jahr. Darüber sind wir alle froh. Und, meine Lieben, Eure Kinder anzuschauen, ist wahr ein Genuß. Man braucht nicht unbedingt zu ihren Vorfahren zu gehören. Auch jeder Fernstehende muß vorurteilslos anerkennen, daß sie mit einem Wort „niedlich“ sind. Sei nicht traurig darüber, mein Töchterchen, daß Deine Rita im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung einen stark Wöhl’schen Einschlag hat. Blick auf das Bild Deines Mannes, ich meine das, wo er den Hut trägt, ist er nicht herrlich geraten? Er ist aber nach meiner Meinung immer noch nicht der Typ eines Postbeamten, sondern mehr der eines Ingenieurs mit weit schauendem , in die Lüfte gerichteten Blick. Und stelle bitte daneben Kai’leins Bild mit der Pluderhose und den hohen Stiefeln. Ist er nicht ein würdiger Wöhl’scher Nachkomme? Ihr könnt wirklich stolz sein auf Eure Kinder u. wir Oma, Opa u. Uromas sind es nicht minder. Uns stört die meckl. Kartoffelnase nicht im geringsten. Weie Ihr seht, sind wir in dieser Hinsicht restlos zufrieden. Wir sind es in Anbetracht der Verhältnisse aber auch sonst – wenn nur die vermaledeite Trennung zwischen West u. Ost nicht wäre. Unsere Zufriedenheit verdanken wir zum größten Teil auch Euch, denn Ihr seid lieb und gut zu uns Alten. Und diesen Dank möchte ich hierdurch allgemein u. für Oma Rieke speziell zum Ausdruck geben.
Herzinnige Grüße von allen
Euer Pipi
Oma Marthas in Süterlin geschriebene Zeilen lauten:
L. Kinder!
Es ist ein Malheur passiert mit dem Brief. Natürlich habe ich Schuld. Pipi schüttelt den Kopf wie nur so etwas passieren kann.
Innige Grüße Euch allen Mutti
… … f. Kai sind im Moment nicht zu haben.