13.9.1954 Brief von Oma Bertha an Kai mit Märchen

Montag d. 13.9.54
Mein herzliebes Kailein!
Eine große Sehnsucht nach meinem kleinen lieben Bübchen u. unserem süßen Mautzchen packt mich. Nun will ich Dir das Märchen erzählen, was ich dir zu schreiben versprochen habe.
Einem kleinen Buben wie Du und einem kleinen Mädel wie Ritamautz war die Mamma gestorben, nun sollte der Pappa für alles sorgen, das die Kinderlein Schuhe, Strümpfe, Hemdchen, Röckchen u. Höschen ebenso auch etwas in den kleinen hungrigen Magen bekamen, denn die beiden Kinder hatten immer Hunger weil Schmalhans Küchenmeister war. Schmalhans ist nämlich ein fast leerer Küchenschrank, kaum Brot, Kartoffeln fast garnicht u. Butter oder Wurst überhaupft nicht. Da kam eines Tages ein alter armer Mann zu dem Pappa und bat um ein Stückchen Brot. Er hatte großen Hunger, der Pappa gab von dem Wenigen was er besaß dem armen Mann damit er satt wurde. Wie der Mann fort ging, gab er dem Pappa eine Bohne. Die war nicht größer wie eine Kaffeebohne. Die sollte der Pappa in die glühende Asche wefen. Das tat der Pappa auch und siehe da, aus der Asche aus der Bohne wuchs ein großer Baum, er wuchs und wuchs aus dem Hause aus dem Schornstein heraus bis an den Himmel. Weil der Pappa nichts mehr verdiente, wurde ihnen das Brot alle. In seiner Not kletterte er auf den Baum, immer höher u. höher, bis er an die Himmelstür kam, er klopfte zaghaft an, da machte Petrus, das ist der Diener vom lieben Gott, ihm die Türe auf und fragte, was er wünschte. Da erzählte er ihm seine Not, das die Kinder großen Hunger hätten. Da gab Petrus ihm ein weißes Tischtuch. Das sollte er auf den Tisch legen und gleich würde er zu Essen haben. Glücklich stieg er den Baum herunter. Wie er unten ankam, deckte er das Tischtuch auf den Tisch u. siehe da, die schönsten u. besteb Speisen standen auf dem Tisch. Da jubelten aber die Kinder. Nun konnten sie sich so richtig satt essen. Eines Tages ging der Pappa zu der Nachbarsfrau u. erzählte ihr ganz stolz, das die Kinder u. er nicht mehr zu hungern brauchten. Da bat ihn die Frau er möchte ihr doch das Tischtuch zeigen. Da tat er auch. Diese falsche Frau tauschte das Tischtuch um. Wie der Pappa nach Hause kam, wollten sie alle essen. Leider kam nichts mehr auf den Tisch, weil das Tischtuch vertauscht war. Da ging das Hungern wieder los. Da wußte der Pappa sich keinen anderen Rat, stieg wieder auf den Baum, um Petrus zu bitten um neue Hilfe. Petrus wurde etwas böse, daß er schon wieder kam, aber die hungernden Kinder taten ihm leid. Da gab er ihm einen Esel. Wenn der Esel groß machen mußte, kamen lauter Goldstücke hervor. Es waren immer so viel. Weil er so am war, hatte er wenig Gefäße. Da ging er zur Nachbarsfrau und borgte sich eine große Schüssel. Das fil der Frau natürlich auf. Sie fragte den Pappa, wo er mit einmal wieder so viel Geld her hätte. Da erzählte er , daß der Esel für Geld sorgte. Eines Abends führte sie ihren Esel in den Pappa seinen Stall u. nahm den Goldsesel mit. Wie der Pappa in den Stall kam und die Schüssel unter hielt, sah er das es mit dem Gold ein Ende hatte. Die Armut begann von neuem. Schweren Herzens entschloß er sich wieder mal zum Hilfegang zu Petrus. Er kletterte wieder auf den Baum und klopfte bei Petrus an. Da wurde Petrus böse und sagte, dies einemal wollte er ihm aus der Not helfen und gab ihm ein feines Stöckchen. Mit dem sollte er zu der Nachbarsfrau gehen und das Stöckchen sie so lange hauen lassen, bis sie ihm das vertauschte Tischtuch u. den vertauschten Esel heraus gäbe. Wenn der Pappa noch einmal käme, mache er nicht mehr auf. Gleich wie der Pappa vom Baum stieg, ging er zur Nachbarsfrau u. zeigte ihr den Stock und sagte, sie solle ihm das Tischtuch und den Esel wieder geben. Da wurde die Frau sehr böse und sagte, was ihm einfiele, sie hätte doch dem Pappa seine Sachen nicht. Da nahm der Pappa das Stöckchen und sagte, er würde es ja sehen, ob sie die Sachen vertauscht hätte oder nicht. Das Stöckchen tanzte flott auf der Frau ihrem Rücken, sie schrie, jammerte u. bat, er möchte das Stöckchen doch fortnehmen. Er blieb fest, solange solle der Stock hauen, bis er sein Eigentum wieder hätte. Wie sie die Schläge garnicht mehr aushalten konnte, da lief sie hin u. holte das Tischtuch un. den Esel, aber das Stöckchen tanzte bei jedem Schritt, die sie tat auf ihrem Rücken. Wie der Pappa beides hatte und sich überzeugt hatte, daß beide heile, das Geschenkte von Petrus war, nahm er den Stock von dem Rücken. Der Pappa ging zu seinen Kindern, um ihnen wieder zu essen zu geben. Nun hatte er zwei Teile, das Tischtuch, daß zu jeder Mahlzeit Essen auf den Tisch brachte und den Esel, der Geld für alle anderen Sachen: Kleider Schuhe, Höschen, Röckchen und sonstiges, was ihnen Not tat, sorgte. –
Gefällt Dir das Märchen? Nächstes mal schreibe ich Dir das vom Osterhasen auf. Mamming liest es Dir bestimmt vor. Recht lieb und innig küßt Dich mein Bübchen u. klein Ritamauz
Eure Oma

Mein liebes Annemiechen mein lieber Bruno!
Von Mutti bekam ich gestern eine Karte. Sie schreibt Anfang Okt. will sie uns besuchen. Sehr freue ich mich auf ihr Kommen. Ob von der Übersiedlung zu Euch etwas wird? Inzwischen ward Ihr wohl im Westerwald (?). Ich schickte doch ein Päckchen mit einer Sammeltasse, Ritas vergessene Schühchen an Euch. Es war bevor ich nach hier reiste. Von hier sandte ich ein kleines Geburtstagsgeschenk für Mautzi. Freitag fahre ich wieder nach Hause. Onkel Fritz Heilmethode hat Erfolg, nur die Angst quält mich noch immer. Ihr lieben Kinder! Ich habe es hier wirklich sehr gut. Tante Elsbett sorgt für gutes Essen. Gottlob sie haben auch alles genug. Dieses Glück in der Wirtschaft gönnte ich Tante Frieda. Ich muß aber sagen daß Onkel Fritz und Tante Elsbett äußerst fleißige Menschen sind. Nun gute Nach, Ihr lieben Kinder. Schreibt mir doch ob Kailein sich über das Märchen gefreut hat.
Innig grüßt Euch Beide Eure Mutter
Von meinen lieben Gastgebern viele Grüße