13.06.1947 Brief von Richard an Annemarie Zoch

Schwerin 13. VI.47


Liebe Annemarie!
Wir sagen Dir  vielen schönen Dank für Deine lieben Zeilen und erwidern Deine und Deiner Angehörigen Grüße auf das herzlichste. Daß ich Dir lange nicht mehr schrieb, ist mir erst durch Deinen Brief zum Bewußtsein gekommen. Aber Du hast wohl recht, mein liebes Kind, und ich bitte Dich, mein Versäumnis zu entschuldigen. Eine böse Absicht lag dem aber, wie Du mir ohne weiteres glauben wirst, nicht zugrunde. Ich kann mich auch nicht mit Krankheit oder dergleichen entschuldigen. Gesundheitlich geht es uns gottlob allen gut und an die Nöte des Alltags und sonstigen Sorgen, die mehr oder weniger alle belasten, hat man sich mittlerweise so sehr gewöhnt, daß man sich dadurch kaum noch unterkriegen läßt. Du weißt es ja, liebe Annemarie, was uns bedrückt. Das Schicksal meines Schwagers Walter hat sich immer noch nicht aufgeklärt. Vielleicht ist er bei den letzten Kämpfen in Pommern noch gefallen. Es wird schwer fallen, darüber Gewißheit zu erlangen. (Ende Seite 1)

Versucht haben wir schon alles mögliche. Die Briefe von Bruno u. Annemarie gaben auch nicht immer Anlaß zur Freude. Mal hat es den Anschein, ihr kärgliches Los würde sich bald bessern. Dann aber kommt doch wieder Unerwartetes dazwischen u. macht die Hoffnungen zu schande. Es ist unsere Absicht, die Kinder demnächst zu besuchen. Ob aber unser Plan zur Durchführung kommt, hängt nicht von uns allein, sondern von verschiedenen Umständen ab, auf die wir keinen Einfluß haben. Man soll sich erfahrungsgemäß nicht zu früh freuen, denn oft kommt was dazwischen und man ist enttäuscht. Wir rechnen im übrigen damit, daß Bruno u. Annemarie in absehbarer Zeit ihren Wohnsitz wechseln werden, denn einen 2. Winter wollen sie unter keinen Umständen in dem Dorf bleiben. Die Unterkunftsverhältnisse, insbesondere die Heizmöglichkeiten sind dort zu schlecht. Du siehst, wir wie sie leben gegenwärtig in einer Ungewißheit, die uns in unseren Handlungen und in mancherlei Vorhaben hemmt. Vorgesehen war unter anderem, daß Du uns auch in diesem Sommer wieder auf einige Zeit besuchen solltest. Statt dessem hast (Ende Seite 2)
Du einen Teil Deiner von Vater u. Mutter bewilligten Ferien in Spandau bei Deiner neuen Schwester verbracht. Wir freuen uns darüber, zumal wir auch jetzt – Mitte Juni – noch nicht mit Sicherheit eine Termin bestimmen können, wann wir uns Dir widmen könnten. Gegenwärtig ist Oma Wiesche in Köthendorf, teil um zu Nähen, teil um sich zu erholen. Während dieser Zeit ist Mutti Wöhl vollständig an das Haus gebunden, denn täglich kommt Kundschaft mit Wünschen zur Oma und immer darf sie nicht vor die verschlossene Tür kommen. Daneben hat Oma ein Zimmer an ein Dolmetsch-Büro vermietet. Auch das will betreut sein. Nur wer kommt dafür in Betracht? Mutti Wöhl! Sie saust den lieben langen Tag treppauf, treppab u. behält für ihre eigenen Gelüste so gut wie keine Zeit. Du könntest mithin nur zu Deinem Recht kommen, wenn ich Urlaub habe, das wird im Juli oder August sein. In dieser Zeit sollten wir aber auch noch Bruno u. Annemarie aufsuchen. Wer weiß einen (Ende Seite 3)

Ausweg? Ich frage Dich, liebe Annemarie, weißt Du des Rätsels Lösung? Wir hätten Dich wirklich gern eine Zeitlang bei uns, aber wir müssen Dir auch die Gewähr bieten können, daß es dann nett u. unterhaltend für Dich sein wird u. Du nach den schönen Tagen des verflossenen Jahres nicht allzu sehr enttäuscht bist. Das letztere können wir jedoch zur Zeit noch nicht u. deswegen möchte ich Dir vorschlagen, zunächst noch die weitere Entwicklung der Dinge abwarten, denn außer meinen oben dargelegten Gründen gilt es auch auch sonst noch einiges zu überlegen. Wie bekommen wir unseren lieben Gast gesättigt? Mit unseren Kartoffeln sind wir am Ende. Das Brot reicht in folgedessen kaum zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und wenn wir, wie augenblicklich, wo Oma Wiesche fort ist, noch etwas erübrigen, so warten, wie Du Dir denken kannst, in Taarstedt 2 hungrige Seelen auf unsere Zuwendung. Es ist anzunehmen, daß die Ernährungslage sich in den nächsten Wochen, wenn es erst neue Kartoffeln u. ausreichend Gemüse gibt, bessert. Auch dies ist ein trifftiger Grund mit, (Ende Seite 4)

wenn wir Dich bitten, unserer Einladung erst im Hochsommer oder Herbst Folge zu leisten. Ich setze hierbei voraus, daß Deine Eltern Dich dann ebenso gut entbehren können. Dein Vater wird sicherlich die Aufgaben seiner kleinen Annemarie miterfüllen, nicht wahr? Jedenfalls versichere ich Dir, daß wir uns alle sehr freuen werden, wenn es unseren gemeinsamen Anstrenungen gelänge, die sich gegenwärtig noch auftürmenden Hindernisse zu bewältigen, um uns mit Dir zusammen ein paar gute Tage zu gönnen, die wir nicht nur nötig, sondern auch redlich verdient haben.
Wie geht es Deinem Mütterchen? Ist sie gesund und, vor allem, fühlt sie sich glücklich in ihrer jungen Ehe? Hierüber vermisse ich Aufklärung in Deinem Briefe. Ich darf aber daraus wohl schließen, daß sich sich sehr wohl u. geborgen fühlt im Schutze Deines neuen Papas u. daß so nur diesem Glückszustand zuzuschreiben ist, daß sie es unterließ, Deinem Briefe einige Zeilen für uns hinzuzufügen, wie wir es sonst bei ihr gewohnt waren. Ist Großmutter wieder auf dem Posten? Und was beginnt Christa? Geht sich noch weiter zur Schule? Von Annemaries Eltern hörten wird, daß sie (Ende Seite 5)

wahrscheinlich am Stande bleiben können. Die Verhältnisse hätten sich dort etwas gebessert. Wir möchten ihnen wirklich wünsche, daß der besser Zustand von Dauer ist.
So, mein liebes Kind, ich wollte Dir einen lagen Brief schreiben. Das habe ich als folgsamer Pipi nun getan. Ich weiß wohl, ich habe Dich mit meinen Ausführungen nicht restlos befriedigt, doch das liegt nicht an mir, sondern an den trostlosen Zeitverhältnissen. Wie gern wären wir schon einmal zu Euch gekommen oder hätten Dich, Mutter oder Christa zum sofortigen Besuch nach hier gebeten, um über all das mit Euch zu reden, was uns miteinander verbindet u. was sich brieflich so schlecht ausdrücken läßt. Die Gründe für das Nichtzustandekommen habe ich in obigem anzudeuten versucht. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben! In dieser Zuversicht grüßen Dich u. Deine lieben Angehörigen
Dein Pipi u. Mutti Wöhl sowie die beiden Omas